ICD-11 Kritik an der Einführung des neuen Systems

Die Einführung der ICD-11 (International Classification of Diseases, 11. Revision) durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat viele Verbesserungen gebracht – etwa modernere Diagnosen, digitale Kompatibilität und eine bessere internationale Vergleichbarkeit. Dennoch gibt es auch erhebliche Kritikpunkte, die aus unterschiedlichen Perspektiven (medizinisch, organisatorisch, politisch, ethisch) geäußert werden.

Hier sind die wichtigsten Kritikpunkte zusammengefasst:

Komplexität und Umstellungsaufwand

Herausforderung für Ärzte und Kliniken:
Die ICD-11 ist deutlich umfangreicher und komplexer als die ICD-10. Viele Codes sind neu oder detaillierter, was eine längere Einarbeitungszeit und teure Schulungen erforderlich macht.

IT-Umstellungen:
Krankenhaus- und Praxissysteme müssen technisch angepasst werden. Das verursacht hohe Kosten und technischen Aufwand, besonders in kleineren Einrichtungen.

Fehlende Kompatibilität:
Einige nationale Abrechnungssysteme (z. B. das deutsche DRG-System) sind stark auf ICD-10 abgestimmt und müssen mühsam angepasst werden.

Übergangsprobleme und Inkonsistenzen

Vergleichbarkeit von Daten:
Gesundheitsstatistiken und Forschungsergebnisse, die auf ICD-10 basieren, sind nur eingeschränkt mit ICD-11-Daten vergleichbar.

Übersetzungsprobleme:
Die deutsche Übersetzung und Anpassung („ICD-11-GM“) ist komplex; Übersetzungsfehler oder Unschärfen können Missverständnisse verursachen.

Schulungslücken:
Fehlende Fortbildungsangebote führen zu einer heterogenen Anwendung und damit zu Codierungsfehlern.

Inhaltliche und ethische Kritik

Psychiatrische Diagnosen:
Einige Fachleute kritisieren, dass bestimmte Diagnosen (z. B. im Bereich „Persönlichkeitsstörungen“ oder „Gaming Disorder“) zu stark pathologisieren oder kulturell bedingte Verhaltensweisen medizinisieren.

Kulturelle Biases:
Die Klassifikation orientiert sich stark an westlichen Konzepten von Gesundheit und Krankheit; Kritik kommt vor allem aus nicht-westlichen Ländern.

Überdiagnostik:
Durch neue oder erweiterte Diagnosen könnte die Zahl der diagnostizierten Störungen steigen – mit Folgen für Gesundheitskosten und Stigmatisierung.

Ökonomische und politische Aspekte

Kosten der Implementierung:
Länder mit weniger Ressourcen stehen vor enormen finanziellen und organisatorischen Hürden bei der Einführung.

Einfluss der Pharmaindustrie:
Manche Kritiker sehen in der Aufnahme neuer Krankheitsbilder (z.B. bestimmter psychischer Störungen) wirtschaftliche Interessen großer Pharmakonzerne.

Zeitplan und Akzeptanz

Verzögerungen:
Die WHO empfahl die Nutzung ab 2022, doch viele Länder (darunter Deutschland) hinken hinterher.

Zögerliche Akzeptanz:
Viele Ärzte und Institutionen stehen der ICD-11 skeptisch gegenüber, solange die praktische Umsetzbarkeit nicht gesichert ist.

Zusammenfassung ICD-11:

Die ICD-11 ist ein notwendiger Schritt in Richtung moderner, digitaler und international harmonisierter Gesundheitsklassifikation. Allerdings wird kritisiert, dass:

- der Übergang schlecht vorbereitet ist,
- Schulungen und technische Infrastruktur fehlen,
- und inhaltliche sowie ethische Fragen unzureichend diskutiert wurden.

Kritik an psychiatrischen Diagnosen der ICD-11

Pathologisierung normaler Verhaltensweisen

Viele Fachleute kritisieren, dass die ICD-11 alltägliche oder kulturell bedingte Verhaltensmuster zu schnell als psychische Störungen einstuft. Beispiel: „Gaming Disorder“ (Störung durch exzessives Spielen) wurde neu aufgenommen. Kritiker befürchten eine Stigmatisierung leidenschaftlicher Spieler, obwohl nur ein kleiner Teil tatsächlich suchtähnliche Symptome zeigt. Auch erweiterte Definitionen von Angst- oder Trauerreaktionen könnten dazu führen, dass normale emotionale Reaktionen zu Krankheitsbildern erklärt werden.

Kulturelle und soziale Verzerrungen (Cultural Bias)

Die ICD-11 wurde überwiegend aus einer westlichen, medizinisch-biologischen Perspektive entwickelt. Dadurch könnten nicht-westliche oder kulturell unterschiedliche Ausdrucksformen psychischen Leidens falsch verstanden oder falsch klassifiziert werden. Kritiker fordern mehr kulturelle Sensibilität, etwa bei Diagnosen wie Depression, Schizophrenie oder dissoziativen Störungen, die in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich erlebt werden.

Neue Struktur der Persönlichkeitsstörungen

Die ICD-11 hat das alte System mit vielen spezifischen Persönlichkeitsstörungen (z. B. narzisstisch, histrionisch, ängstlich-vermeidend etc.) abgeschafft und durch ein dimensionales Modell ersetzt: Es wird nun nach Schweregrad (leicht, mittel, schwer) und dominanten Persönlichkeitszügen (z. B. Dissozialität, Zwanghaftigkeit, Negativität) klassifiziert. Kritik: Manche Psychiater halten das neue Modell für zu abstrakt und unpraktisch für den klinischen Alltag. Es erschwert die Vergleichbarkeit mit älteren Studien und ICD-10-basierten Diagnosen. Einige befürchten, dass bestimmte Störungen (z. B. Narzissmus) unsichtbar werden könnten.

Grenzziehung zwischen normal und krank bleibt unscharf

Die ICD-11 bemüht sich zwar um eine präzisere Definition psychischer Störungen, doch viele Grenzfälle bleiben diagnostisch unklar. Beispiel: „Prolonged Grief Disorder“ (anhaltende Trauerstörung) soll Menschen helfen, die übermäßig lange unter Verlust leiden. Kritiker warnen aber, dass Trauer ein normales menschliches Erleben sei und durch solche Diagnosen psychologisiert oder medikalisiert werden könne.

Gefahr von Überdiagnostik und Medikalisierung

Mit der Erweiterung und Präzisierung vieler Diagnosen befürchten Fachleute eine Zunahme diagnostizierter psychischer Störungen. Dies kann zu Überbehandlung, Medikamentenverschreibung oder Stigmatisierung führen. Auch ökonomische Interessen (z. B. durch Pharmaunternehmen) werden in diesem Zusammenhang kritisch diskutiert.

Zweifel an der empirischen Grundlage

Manche neuen oder überarbeiteten Diagnosen beruhen auf begrenzter wissenschaftlicher Evidenz oder kulturell einseitigen Studien. Fachgesellschaften bemängeln, dass viele klinische Entscheidungshilfen (z. B. Schweregradeinteilungen) nicht ausreichend empirisch validiert seien.

Kommunikationsprobleme im klinischen Alltag

Durch neue oder geänderte Diagnosetitel kann es zu Missverständnissen zwischen Fachpersonen und Patienten kommen. Begriffe wie „Persönlichkeitsstörung“ oder „Zwanghaftigkeit“ werden unterschiedlich verstanden, was Akzeptanzprobleme und Stigmatisierung verstärken kann.

Zusammenfassung:

Die ICD-11 bringt Fortschritte, etwa durch ein dimensionales Verständnis von psychischen Störungen und bessere internationale Vergleichbarkeit. Es bestehen jedoch ernsthafte inhaltliche, kulturelle und ethische Bedenken:

- Gefahr der Überpathologisierung menschlichen Verhaltens,
- mangelnde kulturelle Sensibilität,
- praktische Probleme im klinischen Alltag,
- und Zweifel an der empirischen Fundierung mancher neuen Diagnosen.